Vera, übernehmen Sie!

Das ist er also, der Cyber-Space. Tristes Bürogebäude im Münchner Osten, gar nicht futuristisch. Dabei sollen doch von hier aus Verbrecher mit einer Hightech-Software gejagt und gestellt werden! Zur Begrüßung beim Bayerischen Landeskriminalamt (BLKA) stehen keine Robo-Cops bereit, aus der Gegensprechanlage klingt nur ein blechernes "Können Sie mich hören?". Eine Beamtin öffnet die vergitterte Tür, und man ist drin. Besuch bei VeRA.

"Verfahrensübergreifende Recherche- und Analyseplattform", so heißt die Software, um die es hier gehen soll. VeRA, eine Abkürzung, die Datenschützern Zornestränen in die Augen treibt. Ein Werkzeug sei das, von dem die Stasi nur hätte träumen können, sagen sie. Bayern nutzt es seit rund neun Monaten.

Kriminalbeamte wollen mit der Software "Predictive Policing" betreiben, also vorhersagebasierte Polizeiarbeit. Sie sehen in dem Programm die Lösung für ein Problem, das sie im Kampf gegen organisiertes Verbrechen lange Zeit bremste: Vor der Arbeit mit VeRA mussten sie Datensätze analog mit den anderen Dienststellen abgleichen und verloren dabei wertvolle Zeit – gerade in "dynamischen Lagen" sei es vorgekommen, dass Informationen, bis sie alle Sicherheitsschleusen der Polizei-Kommunikation durchlaufen hatten, schon veraltet bei den Ermittlern ankamen. Heute führt das von der US-amerikanischen Firma Palantir eigens für die bayerische Behörde entwickelte Programm nicht nur Informationen aus verschiedenen Datenbanken, sondern auch Zusammenhänge aus unterschiedlichsten Ecken des Archivs per Doppelklick zusammen. Es genügt dann, einen Namen einzugeben – und schon erfährt man etwa die Meldeadresse, welche Fahrzeuge derjenige besitzt, wann er geblitzt wurde und ob er schon straffällig wurde. Einen Menschen ins Visier nehmen, bevor er eine kriminelle Tat begeht, Schlimmes verhindern, dabei soll VeRA nun helfen, indem das Programm das Umfeld verdächtiger Personen untersucht und Hinweise gibt, wen man gezielt observieren sollte.

Im Kinofilm Minority Report ging es bereits im Jahr 2002 darum, Verbrechen zu verhindern, bevor sie verübt werden. Ein Computer berechnete, wer zukünftig zum Mörder wird. Aber wie gefährlich ist, wenn das Realität wird? Ist dann nicht jeder ein Verdächtiger? Nach welchen Kriterien pickt die Software potenzielle Täter aus der Datenbank – genügt es schon, eine bestimmte Hautfarbe zu haben, einen gewissen Namen zu tragen, einer Religion anzugehören? Und was ist mit der Unschuldsvermutung?

Laut dröhnt der Furor der Kritiker aus dem Internet. Es scheint, als gäbe es keinen einzigen Datenschützer, der sich nicht gegen VeRA stellte. Spricht man jedoch mit ihnen, stellt sich heraus, dass kaum einer das Programm je selbst gesehen hat, man wisse nur theoretisch, wie es funktioniert.

Höchste Zeit also für die Praxis: In der Münchner Behörde haben sich der VeRA-Projektleiter, Kriminaloberrat Jürgen Brandl, und seine Kollegen einen fiktiven Fall ausgedacht. An ihm wollen sie nun die Funktionsweise von VeRA präsentieren und alle Bedenken vom Tisch räumen. Brandl, großer Mann, weißes Hemd, kleine Brille, sieht man an, wie stolz er auf VeRA ist.

Der fiktive Fall beginnt mit einer Epost, das sind Informationen zu einem möglicherweise anstehenden Verbrechen, gesendet von einem befreundeten Geheimdienst. Menschen aus dem Umfeld des "Islamischen Staats", so heißt es, wollen aus Frankreich ins deutsche Bundesgebiet einreisen. Konkret nach München, wo sie dabei sind, einen Anschlag vorzubereiten. Im Anhang der Epost findet man eine Excel-Tabelle mit 100 Namen aus dem Umfeld der verdächtigen Personen. Eine brisante Lage. Brisant genug, um VeRA anzuwerfen.

Das System färbt sich dunkelrot, um die Dramatik zu unterstreichen

Nur wer eine Berechtigung hat, darf sich in der Software anmelden. Um die zu bekommen, müssen Beamte geschult werden und sich einer Sicherheitsüberprüfung unterziehen. Das System erkennt, zu welchen Informationen der jeweilige Beamte rechtlich Zugriff hat – alle darüber hinausgehenden sind blockiert. In diesem Fall herrscht dringende Gefahr: ein möglicher Terroranschlag. Das System färbt sich dunkelrot, um die Dramatik zu unterstreichen. Das Polizeiaufgabengesetz sieht in Paragraf 61a vor, dass nun alle verfügbaren Daten abrufbar sind: die Mutterdatenbank der Polizei, die vom Vermerk bis zum Verkehrsunfall alle Strafangelegenheiten beinhaltet, alle Fälle mit komplexer Spurenlage, der gesamte Fahndungsbestand der bayerischen Polizei, sämtliche Einsätze der Leitstelle – und ebenso Daten aus Wohnraumüberwachungen, die nur in derartigen Ausnahmefällen angezapft werden dürfen.