
Kein Einzelfall, sondern ein Systemfehler
- 4 Aufrufe
Es sind Taten, so grausam, dass die Details kaum aushaltbar sind. Eine Gruppe namens "764" soll Kinder und Jugendliche online kontaktiert, emotional von sich abhängig gemacht und dann gequält, sie gar zum Suizid angestiftet haben. Ein Opfer soll sich umgebracht haben. Besonders erschreckend: Die mutmaßlichen Täter, darunter ein heute 20 Jahre alter Mann aus Hamburg, waren teils selbst noch minderjährig, als sie die Taten begingen.
Was bleibt, ist Fassungslosigkeit. Und der Wunsch, solche Taten in Zukunft zu verhindern. Die Polizei zum Beispiel, die erst vom US-amerikanischen FBI einen Tipp bekommen musste, um auf die Fälle aufmerksam zu werden, will das über mehr Befugnisse erreichen: Der Bund Deutscher Kriminalbeamter fordert mehr Personal, eine zentrale Zuständigkeit und Vorratsdatenspeicherung, also die Möglichkeit, Standortdaten oder IP-Adressen anlasslos zu speichern.
Alarmisten wie Manfred Spitzer wiederum pochen in Reaktion auf die Tat auf ein Smartphone-Verbot für Jugendliche bis 14 Jahre und ein Social-Media-Verbot bis 16. Und Medien schreiben nun Text nach Text, in denen sie Eltern erklären, wie sie ihre Kinder im Netz zu schützen haben.
All diese Reflexe überraschen nicht. Sie sind in einer breiten Masse anschlussfähig, weil sie einfache Lösungen für ein komplexes Problem versprechen. Wer aber wirklich etwas ändern will, muss an der Keimzelle der Probleme ansetzen: bei den Plattformen.
Man kann Kinder nicht vor allen Gefahren schützen – aber man kann sie darauf vorbereiten
Zunächst: Ja, natürlich müssen die Befugnisse der Polizei so weit gehen, dass sie ohne US-amerikanische Hilfe mitbekommt, was für dunkle digitale Machenschaften in Deutschland vor sich gehen. Vor allem in der volatilen Weltlage möchte man sich im Notfall nicht so gerne auf einen unbeständigen Partner wie die Vereinigten Staaten verlassen müssen.
Nur ist der Wunsch danach, zum Beispiel Standortdaten oder IP-Adressen anlasslos zu speichern und bei Bedarf abzurufen, wie es unter dem Schlagwort Vorratsdatenspeicherung bekannt ist, mehrfach vom Europäischen Gerichtshof kassiert worden (zumindest in großen Teilen), weil mit einer solchen Maßnahme die Privatsphäre aller gefährdet ist. Und diese Informationen helfen ohnehin erst, wenn schon etwas passiert ist – zu spät also.
Ja, natürlich kann man nun Smartphones und Social Media bis zu einem gewissen Alter verbieten. Aber man muss davon ausgehen, dass sich viele Kinder um solche Verbote herummogeln werden – oder es zumindest versuchen.
Hinzu kommt: Bezogen auf den aktuellen Fall kann die Forderung nach solchen Verboten unter Umständen sogar kontraproduktiv sein. Denn Cybergroomer, also Menschen, die gezielt sexuelle Kontakte mit Minderjährigen im Netz anbahnen wie nun die Gruppe 764, legen es darauf an, ihre potenziellen Opfer von ihrem sozialen Umfeld abzuschneiden. Der Grund: Je länger diese schweigen, desto länger können die Täter unentdeckt mit ihnen interagieren. Meldet sich ein Kind nun aber wegen eines Verbots heimlich auf Instagram an und wird dort von einem fremden Typen (ja, meist sind die Täter männlich) angeschrieben, wird sich das potenzielle Opfer erst recht nicht an seine Eltern wenden, wenn das Gespräch plötzlich merkwürdig wird, wenn der Typ Nacktfotos verlangt oder Schlimmeres.
Und ja, natürlich ist es nett gemeint, besorgte Eltern mit Ratschlägen zu versorgen, wie sie den Nachwuchs online besser im Blick behalten. Es ist ja auch wichtig, dass sie ungefähr wissen, was ihre Kinder im Netz treiben, was im Klassenchat passiert, welche TikToks sie beschäftigen, mit wem sie Fortnite zocken und mit wem sie auf Discord schreiben. Aber man sollte die Verantwortung nicht einfach komplett auf die Eltern abschieben. Ab einem bestimmten Alter erzählen Kinder nun einmal gar nicht mehr so gerne, was in ihrem Leben passiert; Ratschläge von Erwachsenen sind da eher unwillkommen.
Es ist letztlich wie beim Alkoholkonsum: Man kann seine Kinder auf digitale Horrorszenarien vorbereiten. Geraten sie wirklich in ein solches, kann man aber oft nur darauf hoffen, dass diese Erklärungen und Mahnungen vielleicht zu einem klitzekleinen bisschen mehr Vernunft oder Achtsamkeit führen.
Wer solche abscheulichen Taten viel direkter verhindern und Kinder wirksam schützen kann, sind die digitalen Plattformen.